Südamerika, November 2014
On Tour mit Ed Neumeister

Für Jazz-Fans gibt es im November eine herrliche Möglichkeit, dem tristen und kalten Winteranfang in Wien zu entfliehen: nach Südamerika, genauer gesagt nach Uruguay und Argentinien, zum Jazzfestival in Montevideo (14.-24.11.), dem Festival de Jazz de Cordoba (19.-24.) und dem Buenos Aires Jazz Festival (19.-24.).

Montevideo

Beginnt man in Montevideo, mit 1,3 Millionen Einwohner die kleinste der drei Städte, lernt man rasch die Tranquilidad kennen, wie die Montevideaner ihren eigenen Rhythmus und Lebensstil nennen. „When you talk to people here, you´ll find it´s very relaxed. Everyone seems to have time to talk for half an hour or more about life. Montevideanos are not stressed about needing to rush off. We are not chasing money. What´s important is having a beach close to where you live, and spending the evenings with your family and friends“, sagt Philippe Pinet, Direktor des Jazz Festivals. 
Und nimmt sich am Tag vor der Eröffnung des Festivals ausreichend Zeit, seine internationalen Gäste in seinem Garten zum Barbecue zu bewirten. Wer als er kann besser wissen, wie man ohne Stress zu Erfolg und Lebensqualität kommt. Denn neben dem Festival leitet er ein Consulting-Unternehmen, spezialisiert auf die Vermittlung von Geschäftsbeziehungen mit französischen Großunternehmen, nachdem er zuvor, in den 1980er Jahren, Uruguays erfolgreichster Tennisprofi war.

Montevideo ist eine beschauliche, spanisch-mediterran anmutende Stadt, die zu zwei Seiten von Wasser umgeben ist, das bis zum Horizont reicht, und dennoch kein Meer ist. Es ist das Mündungsdelta des Rio de la Plata. Eine Einwanderer- und Hafenstadt, die ob ihrer Lebensqualität – die höchste in ganz Südamerika – bei Europäern besonders beliebt ist. Und damit völlig zu unrecht „das Buenos Aires des armen Mannes“ genannt wird. 
 Montevideo hat seinen eigenen Charme, unprätentiös und eigenbrödlerisch. Hier jagt man keinen Moden nach, und zeigt sich resistent gegen den Einzug globaler Trends und Marken im Stadtbild. Dafür gibt es jede Menge lokaler Feinheiten zu entdecken, von Handwerkstraditionen über Vintage-Autos bis zu den am offenen Feuer gegrillten Steaks und dem Tannat, einer eigenen Rotweinsorte. Und selbst das kleine Boutique-Hotel in der Altstadt, wo auch die internationalen Musiker untergebracht sind,  ist anders, mit einer Kunstsammlung lokaler Künstler und einer Frühstücksterrasse am Dach, die den Blick auf die Dachlandschaft der Altstadt bis zum Wasserhorizont freigibt.



Tranquilidad kennzeichnet auch das Programm des Festivals – wenige, aber durchaus spannende internationale Gäste, konzentriert auf einen Austragungsort: Teatro Solis, die bedeutendste Bühne des Landes und das zweitgrößte Theater Südamerikas. 


 






Die lokalen Musiker spielen dann spätabends im Keller des sympathischen Restaurants Paullier Y Guaná, wo man herrlich essen und abhängen kann. Keine Parallelkonzerte, keine Qual der Wahl. Das fördert auch den Austausch unter den Musikern, man diniert gemeinsam nach den Konzerten und genießt die eine oder andere Flasche Tannat. 



Buenos Aires


Mit fünf verschiedenen Venues und unterschiedlichen Formaten sind die Festivaltage in Buenos Aires vollgepackt mit Programm. 

















Ein Highlight sind die Crossings – oder „cruces“ im Original -, wie Festivalleiter Adrián Iaies die Einladung an internationale Musiker nennt, mit lokalen Größen zusammen zu spielen. 
 Ein ungewöhnliches Format, das gleichzeitig der Natur und dem Spirit des Jazz entspricht. Austragungsorte der Crossings sind zwei Clubs im chicen Viertel Palermo, die beide eine großartige Atmosphäre ausstrahlen: Café Vinilo und Thelonious Club.
 
Es ist faszinierend zu beobachten, welch verbindende Kraft die Musik, und im besonderen die Jazzmusik erzeugt, speziell dann, wenn Musiker zum ersten Mal aufeinandertreffen und zusammen spielen. Ein Lehrbeispiel erster Klasse für jeden und alles im Leben!

Faszinierend ist auch die Organisation der vielen Gäste des Festivals: Für jeden Musiker ist ein genauer Tagesablauf vorbereitet, und eine Begleitung abgestellt: Wir werden von Chris betreut, vier Tage lang. Ob Proben, workshops, Mittagessen, Abendessen – alles ist organisiert, ein Festivalauto mit Chauffeur immer zur Stelle, und Chris immer mit dabei, stets gut gelaunt und lachend. Und er kümmert sich um alle Extrawünsche, zum Beispiel Abweichungen vom vorgesehenen Menü oder Geldwechsel auf der Straße, wo der bessere Kurs herrscht. Die Entfernungen sind groß, der Verkehr enorm, und so lernen wir die Stadt vom Auto aus kennen, ganz abgesehen von der lokalen Restaurant- und Musikszene ...




Pioneertown, Californien, April 2013
Off-grid in der kalifornischen Wüste

Soweit das Auge reicht, dehnt sich um 360 Grad eine Wüstenlandschaft aus, die von mächtigen Steinhügeln, Kakteen, Buschgewächsen und blühenden Yucca-Bäumen durchzogen ist. Das letzte Haus an der welligen Sandstrasse, die hier durchführt, eine Ranch mit dem klingenden Namen „Atomic Ranch“ liegt bereits mehrere Kilometer zurück. Hier funktioniert kein Navi mehr, auch kein Telefonsignal. Die einzige Orientierung ist eine kleine Handzeichnung, die wir noch in der Zivilisation per email empfangen und ausgedruckt hatten. Plötzlich, hinter einer Kurve, auf einem Hügel thronend, steht er, der gläserne Bungalow, der unser Feriendomizil für die nächsten Tage sein sollte. Wie ein Ufo scheint er hier fremd gelandet zu sein. Die Besitzerin, Linda Taalman, eine Architektin aus Los Angeles, hat dieses Musterhaus für einen Serienbungalow, der komplett auf Selbstversorgungsbasis, also „off-grid“ funktioniert, entworfen und entwickelt.




Die „Hi-Desert“, von Los Angeles in rund drei Stunden über die Route 66 erreichbar, heißt ihre Besucher willkommen, so sagt es zumindest der Name. Tatsächlich ist es eine eigenwillig anziehende Landschaft und Lebensweise, die man hier vorfindet. Im Joshua Tree National Park, dem Herzstück mit über 2.000 m2 unberührter Wildnis, kommen zwei Wüstenlandschaften und Ökosysteme zusammen: die Colorado Wüste mit ihren ungeheuren Granitsteinformationen und den namensgebenden, im Frühling blühenden Joshua-Bäumen sowie die Mojave Wüste mit den gelb blühenden Kreosotbüschen und den bis zu zwei Meter hohen Cholla Kakteen, die durch ihr dichtes, weißes Stachelkleid bezaubern. Dazwischen Lehrpfade, Kletter-Routen, Ranger-Stationen, Palmenoasen und Picnic-Plätze. Eine freundliche Wüste.



Zahlreiche Künstler haben  ihre heimlichen Refugien in der Hi-Desert, abseits vom kalifornischen Mainstream-Tourismus und Hollywood-Glamour des nahe gelegenen Palm Springs, wenn auch der Film seine sichtbaren Spuren hinterlassen hat. 

In der Wüstenstadt Pioneertown etwa, die in den 1940er Jahren als Filmkulissenstadt für Western-Produktionen erbaut wurde, von einem Investorenkonsortium rund um Roy Rodgers, den King of the Cowboys. Im Gegensatz zu reinen Kulissen waren aber die Häuser in Pioneertown „echte“, das heißt fest gebaute und bewohnbare Häuser, sodass der kleine Ort entlang einer Sandstrasse heute noch genauso aussieht wie 1940, aber regulär bewohnt ist. 
Denn nach Abzug der Westernindustrie wurden die einzelnen Objekte an Privatpersonen verkauft, oder einfach stehen gelassen und in Besitz genommen, zwischen Pferdetränken und anderen Requisiten, die einen skurilen Skulpturenpark ergeben. 



Was ehemals der Filmcrew als Restaurant, Bowling Bar, Barber Shop oder Postamt diente, ist heute wieder in Betrieb, wie etwa auch das berühmte Restaurant „Pappy & Harriet´s“ im ehemaligen Pioneertown Palace. Man serviert den ganzen Tag über herrliche Hamburger und Steaks, abends spielt eine Live-Band. Das Publikum ist eine Mischung aus Künstlern und zeitgenössischen Cowboys und –girls jeden Alters. 

Im nahe gelegenen Yucca Valley, direkt an der Route 66, kommen Vintage-Fans auf ihre Rechnung. Im alten Stadtteil, wo sich ein Antiquitätenladen nach dem anderen reiht, findet man neben universellem Krims Krams so manche historische Hollywood-Requisiten und Kostüme. „Come for a Day, Stay for a Lifetime“ wirbt der lokale Wirtschaftsverband. Das funktioniert.



Helsinki, November 2012

Es ist ein klirrend kalter Novembernachmittag, die Sonne steht tief am Horizont. Vor dem unscheinbaren Gemeindebau aus den 1920er Jahren sitzt eine Gruppe von lachenden Männern auf einer schmalen Bank, direkt neben dem Gehsteig, nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet, jeder eine Bierdose in der Hand. Es ist der Eingang zur Kotiharju Sauna, der ältesten öffentlichen Sauna Helsinkis, die noch traditionell mit Holz beheizt wird. Hier versammeln sich Gäste jeden Alters und sozialer Schicht, vereinzelt auch Touristen. Sauniert wird, wie überall in Finnland, wenn es um den engsten Familienkreis hinausgeht, getrennt: die Männer im Erdgeschoß, die Frauen im ersten Stock. Die Originaleinrichtung aus dem Jahr 1928 erinnert an ein altes Sommerbad. Die eigentliche Sauna ist zum Erstaunen keine holzverkleidete Kabine, sondern ein riesiger, gut 4 Meter hoher Raum mit Fenstern, einem Steinbetonboden und Ruß geschwärzten Ziegelwänden. Rund um das Herzstück, den Holzofen, einem übermannshohen Stahlkasten, der vor sich hin glüht und dabei beängstigende Geräusche abgibt, stapeln sich meterlange Holzscheite, es riecht wie in einem Sägewerk. Wer reinkommt, dreht erstmal kurz an einem kleinen Hahn, der für den Laien unsichtbar an der Seite des glühenden Monsters angebracht ist, und lässt damit Wasser in das Innere fließen, was den Ofen beinahe zum Explodieren bringt. Dann setzt man sich hin, genießt, geht raus, nimmt eine Dusche, geht wieder rein. So verbringt man den ganzen Nachmittag, die Herren von lautem Gelächter begleitet, die Damen bei leisem Tratsch.

Ein Leben ohne Sauna wäre für die Finnen undenkbar, sie gehört zum Alltag wie Essen und Trinken. Auf 5,1 Millionen Einwohner kommen angeblich 1,7 Millionen private Saunen, das bedeutet, dass jeder dritte Finne eine Sauna besitzt. Das Saunieren ist aber nicht nur ein privates Vergnügen, es ist ein Teil der öffentlichen Kultur der Finnen und ihres Soziallebens. Man geht in die Sauna, um Freunde zu treffen oder Geschäfte zu machen. Mobile Saunen auf fahrbaren Anhängern werden tageweise vermietet: für Geburtstagsfeiern, Weihnachtsfeiern, ja sogar Hochzeiten. Als kleine Hütten mit Giebeldach oder in runder Ausführung, als liegende Tonnen. Viele  Firmen leisten sich neben Konferenzräumen Saunen, und selbst in die hohe Politik hat die Saunakultur Einzug gehalten: Zur Ausstattung des finnischen Parlamentsgebäudes gehören ein Schwimmbad und eine Sauna. Dort sind, nackt und bar jedes Status- und Machtsymbols, alle gleich. Das erleichtert das Verhandeln. Nikita Chruschtschow, Helmut Kohl und Michail Gorbatschow kamen auf diese Weise bereits ordentlich ins Schwitzen.

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Dem Helsinki-Besucher bietet sich das heiße Vergnügen auch ohne großem Aufwand, wenn auch mit weniger Lokalkolorit, in einer der unzähligen Hotelsaunas an. Denn eine solche gehört standardmäßig zu jeder besseren Hotelausstattung. Wer das nötige Kleingeld aufbringt, mietet sich in einer Suite mit zimmereigener Sauna ein. Zum Beispiel in der Presidential Suite im Radisson Blue Royal Hotel, der Executive Suite im Kämp Hotel, oder der Junior Suite im Sokos Hotel Helsinki. Letzteres bietet auch eine VIP-Sauna am Dach des Hauses zur stundenweise Miete an, mit zwei Terrassen und Platz für bis zu zehn Personen. Vielleicht ein Idee für die kommende Familienweihnachtsfeier?

New York, Jänner 2012
Die Carnegie Hall des Jazz

Um Punkt 19 Uhr geht das Neon-Schild über dem roten Baldachin am Eingang an: Villlage Vanguard, der älteste Jazz-Club New Yorks, Zentrum des Jazz-Universums und Mekka für Musiktouristen. 
Seit 76 Jahren an der gleichen Adresse in einem kleinen Kellerlokal im West Village untergebracht, hat der Club Musik-Geschichte geschrieben. Mit Miles Davies, Charlie Parker, John Coltrane, Thelonius Monk oder Charles Mingus, um nur einige der Jazz-Legenden zu nennen, die hier regelmäßig spielten. Mit Dinah Washington oder Harry Belafonte, die hier ihre Karrieren starteten. Mit Sonny Rollins, der 1957 die legendäre Aufnahme "A Night at the Village Vanguard" veröffentlichte und damit die Tradition der Live-Einspielungen, bis dato 150 an der Zahl, startete.
Ihr Spirit schwebt noch immer im Raum, und das nicht nur wegen der unzähligen historischen Fotoaufnahmen, die die lindgrünen Wände, ein Zeitzeugnis der 1950er Jahre, tapezieren. So wie die gesamte Einrichtung Original-Flair verströmt, unspektakulär und unglamourös, mit den im Laufe der Zeit notwendigen Adaptionen. 



Es ist ein Montag Abend. Wie jeden Montag steht das Vanguard Jazz Orchestra am Programm - und das seit 1966, als Thad Jones und Mel Lewis die legendäre Big Band, die vormals Thad Jones Mel Lewis Orchestra hieß, gründeten. Zunächst als Probenband gestartet, hatte sie durch ihre neuartigen Arrangements rasch internationale Berühmtheit erlangt, Engagements auf der ganzen Welt folgten. Dennoch blieb sie immer die Hausband des Clubs. Und hat die mittlerweile von vielen internationalen Clubs übernommene Tradition der Montag-Abend-Big Band etabliert. Nach dem Tod der beiden Gründer wurde die Band in Vanguard Jazz Orchestra umbenannt.
Der Raum ist bis auf den letzten Sitz gesteckt voll, wer ohne vorherige Reservierung gekommen ist, hat trotz geduldigem Anstellen an der Türe keine Chance. Lorraine Gordon, die Besitzerin des Clubs, hat bereits am Nachmittag lästigen Anrufern, die versucht haben, noch Karten zu bekommen, aufgehängt. Sie ist heute schlecht gelaunt, „cranky“, wie die Amerikaner sagen würden, was auf deutsch exzentrisch, aber auch griesgrämig bedeutet. Die uneingeschränkte Herrscherin über ihr Imperium, die selbst von Musikern wie Wynton Marsalis widerspruchslos anerkannt wird, hat den Club nach dem Tod ihres Mannes Max Gordon, dem Gründer des Vanguard, 1989 übernommen. Und steht noch immer, obwohl weit über 80 Jahre alt, sechs Abende die Woche vor Ort, unterstützt von ihrer Tochter Deborah, die sich bereits auf die Übernahme vorbereitet. Der Charme der beiden Damen ist ein rauer, und eigentlich nicht einladend, wenn nicht diese einmalige Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine unglaubliche Anziehung ausstrahlen würde. Hier zu spielen, ist nach wie vor die Erfolgsbestätigung für jeden lebenden Jazz-Musiker, hierher als Gast zu kommen, in jedem Fall ein außergewöhnliches Musikerlebnis in diesem dicht gepackten Raum voll Atmosphäre. Eine Atmosphäre, die auch von den Musikern sehr geschätzt und gerne mitgeschnitten wird. Und die nicht zuletzt mit der großartigen Akustik zu tun hat, die der Raum seiner ungewöhnlichen keilförmigen Geometrie verdankt, mit  der Bühne an einer der drei Ecken. „Live at the Vanguard“ ist mittlerweile ein sicherer Verkaufshit unter Jazz-Labels geworden.
Dass das gesamte Gebäude eine extreme Keilform aufweist, geht auf eine unorthodoxe Praxis in der historischen Stadtentwicklung zurück: 1914, als die U-Bahn quer durch das Greenwich Village gebaut wurde, hat man dafür eine 9-Block große Schneise entlang der Seventh Avenue geschlagen. Manche Häuser mussten ganz weichen, andere wurden einfach beschnitten.

Der Westteil des Greenwich Village, auch West Village genannt, war schon zur damaligen Zeit als „Little Bohemia“ bekannt, als günstige Wohngegend für Künstler, mit vielen kleinen Lokalen und Bars. Letzteres ist geblieben, ersteres hat sich drastisch geändert. Heute zählt das West Village – ebenso wie die in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden trendigen Gegenden Chelsea und Meatpacking District – zu jenen Vierteln, die der Gentrifizierung unterliegen: einer soziokulturellen und immobilienwirtschaftlichen Umstrukturierung von arm auf reich.
Ob für Lorraine Gordon die Wertsteigerung ihres Standortes ein Thema ist? Immer wieder darauf angesprochen, erwidert sie meistens nur lakonisch, dass der Club bis dato noch nie seine Miete schuldig bleiben musste.
Wer keine Gelegenheit hat, nach New York zu fahren, kann seit kurzem dennoch in den Genuss der Abende im Vanguard kommen. Auf der Website der Radiostation WBGO gibt es regelmäßige live streams, die man auch als Podcast abonnieren kann.

Amsterdams Kreativ-Hubs


Als Handelsumschlagplatz zog Amsterdam bereits im 15.Jahrhundert Weltenbummler und Händler aus aller Welt an. Auf Offenheit und Multikulturalität setzt man bis heute, Amsterdam gilt weltweit als Symbol einer außergewöhnlichen Stadtentwicklungspolitik, und als Mekka für alternative Lebensmodelle und Freiräume. Bis vor kurzem wurde beispielsweise das andernorts illegale Inbesitznehmen von Häusern geduldet, 1980 gab es alleine in Amsterdam 20.000 Hausbesetzer, heute sind es noch rund 300. Aus einer solchen Inbesitznahme ist die derzeit größte Brutstätte für Kunst und Kreativwirtschaft entstanden, die „Kunststad“, das Herzstück der ehemaligen NDSM-Schiffswerft, gelegen im Amsterdamer Norden.
Das Areal umfasst rund 86.000m2, wovon die Hallen rund 20.000m2 einnehmen. Sie sind allesamt von Vertretern der Kreativwirtschaft in Beschlag genommen: Architekten, Designer, Multimedia-Spezialisten, bildende Künstler, Musiker, Filmemacher, Theaterproduzenten. Doris Rothauer hat darüber im Standard im November 2009 einen ausführlichen Bericht gestaltet, der auf diesem Blog weiter unten („Amsterdams Kunststad“, Label Kreativwirtschaft) nachzulesen ist.
Die Stadtpolitik trägt aber nicht nur „passiv“, sondern auch aktiv zur Entwicklung der Kreativität bei: Etwa mit dem Bureau Broedplaatsen, auf deutsch „Büro für Brutstätten“ ,  das erschwingliche Wohn- und Arbeitsräume durch die Adaption leerstehender Areale für Kulturschaffende zur Verfügung stellt. Bis dato sind in rund 40 vorwiegend älteren Gebäuden der Stadt 1250 Räumen entstanden, in denen an die 2000 Künstler, kleine Kreativbetriebe und Handwerker arbeiten und zum Teil auch wohnen. Sie sind im Stadtbild nicht zu übersehen und tragen maßgeblich zum kreativen Flair bei.
Die jüngste Ergänzung und eines der schicksten Hubs ist das neue Westerhuis des Designers Marcel Wanders, eine altes Schulgebäude aus dem Jahr 1867. Wanders hat das Haus zusammen mit einem Immobilienentwickler komplett renoviert und auf 5.500m2 Kreativstudios geschaffen – ein „Flagship for Art and Cultural Enterprise“, wie er selber sagt. Seinen Designstempel hat er vom Eingang über das Stiegenhaus bis in die einzelnen Büroeinheiten durchgezogen, wie etwa die floral-barocken Tapeten in Gelb und Weinrot, die riesigen Luster in beeindruckender Quantität oder der kleinteilige bunte Mosaikboden in den Gängen. Eine ganze Etage ist seinem eigenen Studio vorbehalten; im Erdgeschoß, dem einzigen für die Öffentlichkeit zugänglichen Bereich, befindet sich die Moooi Gallery, Wanders neues Label und Design Store. 
    

Masai living - Part 1


Paris, Juni 2011
Auf der Pariser Fashion Week sorgt die Louis Vuitton Männer-Sommer-Kollektion 2012 mit leuchtendrot und kobaltblau karierten Mustern für Aufsehen. Mit dieser Einstiegskollektion  ließ sich der neue Chefdesigner, Kim Jones, von den traditionellen Tüchern der Masai, einem der ursprünglichsten Nomadenstämme Ostafrikas, inspirieren. 
Er war nicht der erste, der die Faszination für die Kultur dieser ehemaligen Krieger entdeckte. Bereits John Galliano nutzte für seinen Einstieg beim Modehaus Dior 1997 die prächtigen Farben und reichen Perlenstickereien der Masai für einen aufsehenerregenden Auftritt. Ihm folgten noch vor Kim Jones viele andere Designer; von Giselle Bündchen bis zu  Adriana Kerembeu posierten Star-Models gemeinsam mit den hochgewachsenen, elegant schlaksigen Masai-Männern.  Und selbst das Hollywood-Kino blieb nicht verschont: Mit „The White Masai“ landete die deutsche Regisseurin Hermine Huntgeburth einen weltweiten Kinoerfolg mit der Geschichte der Schweizer Geschäftsfrau Corinne Hofmann, die sich auf einer Reise durch Kenia in einen Masai verliebte und zu ihm und seinem Stamm zog. „Masaitis“ nannte man bereits im 19.Jahrhundert die „Krankheit“, die sich gerne unter Afrika-Erforschern ausbreitete: die Verherrlichung und Verehrung der Masai und ihrer archaisch-nomadischen Lebensweise. Eine Lebensweise, die bis heute ungebrochen anhält, und die sie gleichzeitig perfekt zu vermarkten wissen: politisch nicht organisiert, leben sie in Clans, polygam, mitten in der Wildnis Kenias und Tanzanias, und betreiben Viehzucht. Ihr Hauptnahrungsmittel ist, neben dem Fleisch ihrer Rinder und Schafe, ein Gemisch aus Kuhmilch und –blut. Ihre Dörfer liegen in Regionen, die zunehmend in Naturschutzgebiete umgewandelt wurden, weshalb sie hohe Einnahmen aus dem Tourismus erzielen - was aber ihre einfache Lebensart nicht verändert hat. Mit Unterstützung der Regierung investieren sie ihr Vermögen in den Aufbau von Schulen.  Es kann gut vorkommen, dass ein Masai in Nairobi in einer Firma arbeitet und in einem modernern Apartment wohnt. Dazwischen kehrt er aber immer wieder nach Hause, in sein Lehmhüttendorf, zu seinen Frauen und Kindern, legt Anzug und Krawatte ab, und wechselt sie für seine Tracht, die farbenprächtigen Tücher und den üppigen Glasperlenschmuck. 



Masai living - Part 2


Kenia, August 2011

Leuchtendrot, untermischt mit kobaltblauen und schwarzen Karos, durchzogen mit feinem Grün- und Gelbstreif, so liegen sie vor uns, die großen Baumwolltücher. „Die hat gerade ein Modedesigner als Vorlage verwendet“, lacht uns Tom an und zeigt uns, wie man sie um den Körper bindet. Gehüllt in zwei dieser Tücher, eines knielang als Rock, das andere als Umhang um die Schulter geworfen, am Hals und an den Hand- und Fußgelenken breite Schmuckbänder aus unzähligen kleinen bunten Glasperlen geflochten, schwarze Ledersandalen und einen mannshohen Speer in der Hand, ist Tom, der schlanke hochgewachsene Masai, eine durch und durch elegante Erscheinung. Wir lernen ihn bei einer Safari in Kenia kennen, in einem Camp in Tsavo West. Tom stammt aus einem Masai-Dorf in Amboseli. Fliegt man von Tsavo West nach Amboseli, westwärts, so sieht man die Masai-Dörfer aus der geringen Flughöhe der kleinen Propellermaschine, wie sie hier bei den Flugsafaris üblicherweise im Einsatz sind, sehr gut. Wie minimalistische Kalligraphien nehmen sie sich in der kargen Savannenlandschaft von oben aus. Aus Steinen gelegte Kreise, an deren Rand die kleinen Lehmhütten rundum angeordnet sind, mit einem weiteren kleinen Innenkreis, wo die Ziegen und Schafe hausen.
Einige dieser Masai-Dörfer sind durch den Safari-Tourismus reich geworden, da die Camps auf ihren Grundstücken stehen, und eine Abgabe zahlen müssen, rund 30$ pro Besucher, was für afrikanische Verhältnisse ein Vermögen ist. Das Geld wandert zumeist in den Aufbau von Schulen. So erhalten immer mehr Masai eine Ausbildung und Jobs in den Camps und Lodges, wo sie sich im Kontakt mit den Touristen rasch die westlichen Gepflogenheiten und Sprachen aneignen, ohne ihre primitive Kultur, die sie weiterhin mit Stolz pflegen, aufzugeben.

So auch Tom. Auf einer Fußpirsch macht er uns mit der Lebensweise seiner Stammeskultur vertraut, lehrt uns die Natur zu lesen und die grundlegenden Überlebensregeln zu verstehen. Was wir sehen und hören, ist beeindruckend. Die eigentliche Faszination liegt aber darüber hinaus in der ungeheuren Sensibilität, Offenheit und Intelligenz, mit der er uns begegnet. Wortgewandt, unaufdringlich, und gleichzeitig sehr zutraulich, gewinnt er unser Interesse und Vertrauen. Geschickt stellt er uns immer wieder Fragen, um zu überprüfen, ob wir verstanden haben, aber gleichzeitig auch um unsere Denkweise nachzuvollziehen.


Abends, am Lagerfeuer, geht unsere Unterhaltung weiter. Während Tom das Feuer schürt, wandert sein Blick unaufhörlich in der vor uns im Dunkeln liegenden Wildnis auf und ab. Die Masai übernehmen im ungezäunten Camp ab Einbruch der Dunkelheit den Wach- und Sicherheitsdienst, so lange bis am Morgen die Sonne aufgeht. Jeder Besucher wird auf Schritt und Tritt begleitet, das Zelt von außen beim Schlafengehen zugezippt, die Petroleumlampe auf der kleinen Veranda angezündet. Wer in der Nacht Angst bekommt, hat eine Trillerpfeife neben sich liegen, auf deren Signal hin der Masai sofort erscheint. Wir legen uns unbesorgt nieder und schlafen prächtig. Am nächsten Morgen hören wir beim Frühstück von den nächtlichen Gästen: den Zebras und der Giraffe, die am Eingang zum offenen Hauptzelt ob ihres langen Halses steckengeblieben ist. Und wir hören von früheren Geschichten,  etwa von den mit den Sofakissen spielenden Löwen, die die Masai, so wie alles bisher, gut im Griff hatten, aufgewachsen mit allen Gefahren der Natur.