New York, Jänner 2012
Die Carnegie Hall des Jazz

Um Punkt 19 Uhr geht das Neon-Schild über dem roten Baldachin am Eingang an: Villlage Vanguard, der älteste Jazz-Club New Yorks, Zentrum des Jazz-Universums und Mekka für Musiktouristen. 
Seit 76 Jahren an der gleichen Adresse in einem kleinen Kellerlokal im West Village untergebracht, hat der Club Musik-Geschichte geschrieben. Mit Miles Davies, Charlie Parker, John Coltrane, Thelonius Monk oder Charles Mingus, um nur einige der Jazz-Legenden zu nennen, die hier regelmäßig spielten. Mit Dinah Washington oder Harry Belafonte, die hier ihre Karrieren starteten. Mit Sonny Rollins, der 1957 die legendäre Aufnahme "A Night at the Village Vanguard" veröffentlichte und damit die Tradition der Live-Einspielungen, bis dato 150 an der Zahl, startete.
Ihr Spirit schwebt noch immer im Raum, und das nicht nur wegen der unzähligen historischen Fotoaufnahmen, die die lindgrünen Wände, ein Zeitzeugnis der 1950er Jahre, tapezieren. So wie die gesamte Einrichtung Original-Flair verströmt, unspektakulär und unglamourös, mit den im Laufe der Zeit notwendigen Adaptionen. 



Es ist ein Montag Abend. Wie jeden Montag steht das Vanguard Jazz Orchestra am Programm - und das seit 1966, als Thad Jones und Mel Lewis die legendäre Big Band, die vormals Thad Jones Mel Lewis Orchestra hieß, gründeten. Zunächst als Probenband gestartet, hatte sie durch ihre neuartigen Arrangements rasch internationale Berühmtheit erlangt, Engagements auf der ganzen Welt folgten. Dennoch blieb sie immer die Hausband des Clubs. Und hat die mittlerweile von vielen internationalen Clubs übernommene Tradition der Montag-Abend-Big Band etabliert. Nach dem Tod der beiden Gründer wurde die Band in Vanguard Jazz Orchestra umbenannt.
Der Raum ist bis auf den letzten Sitz gesteckt voll, wer ohne vorherige Reservierung gekommen ist, hat trotz geduldigem Anstellen an der Türe keine Chance. Lorraine Gordon, die Besitzerin des Clubs, hat bereits am Nachmittag lästigen Anrufern, die versucht haben, noch Karten zu bekommen, aufgehängt. Sie ist heute schlecht gelaunt, „cranky“, wie die Amerikaner sagen würden, was auf deutsch exzentrisch, aber auch griesgrämig bedeutet. Die uneingeschränkte Herrscherin über ihr Imperium, die selbst von Musikern wie Wynton Marsalis widerspruchslos anerkannt wird, hat den Club nach dem Tod ihres Mannes Max Gordon, dem Gründer des Vanguard, 1989 übernommen. Und steht noch immer, obwohl weit über 80 Jahre alt, sechs Abende die Woche vor Ort, unterstützt von ihrer Tochter Deborah, die sich bereits auf die Übernahme vorbereitet. Der Charme der beiden Damen ist ein rauer, und eigentlich nicht einladend, wenn nicht diese einmalige Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine unglaubliche Anziehung ausstrahlen würde. Hier zu spielen, ist nach wie vor die Erfolgsbestätigung für jeden lebenden Jazz-Musiker, hierher als Gast zu kommen, in jedem Fall ein außergewöhnliches Musikerlebnis in diesem dicht gepackten Raum voll Atmosphäre. Eine Atmosphäre, die auch von den Musikern sehr geschätzt und gerne mitgeschnitten wird. Und die nicht zuletzt mit der großartigen Akustik zu tun hat, die der Raum seiner ungewöhnlichen keilförmigen Geometrie verdankt, mit  der Bühne an einer der drei Ecken. „Live at the Vanguard“ ist mittlerweile ein sicherer Verkaufshit unter Jazz-Labels geworden.
Dass das gesamte Gebäude eine extreme Keilform aufweist, geht auf eine unorthodoxe Praxis in der historischen Stadtentwicklung zurück: 1914, als die U-Bahn quer durch das Greenwich Village gebaut wurde, hat man dafür eine 9-Block große Schneise entlang der Seventh Avenue geschlagen. Manche Häuser mussten ganz weichen, andere wurden einfach beschnitten.

Der Westteil des Greenwich Village, auch West Village genannt, war schon zur damaligen Zeit als „Little Bohemia“ bekannt, als günstige Wohngegend für Künstler, mit vielen kleinen Lokalen und Bars. Letzteres ist geblieben, ersteres hat sich drastisch geändert. Heute zählt das West Village – ebenso wie die in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden trendigen Gegenden Chelsea und Meatpacking District – zu jenen Vierteln, die der Gentrifizierung unterliegen: einer soziokulturellen und immobilienwirtschaftlichen Umstrukturierung von arm auf reich.
Ob für Lorraine Gordon die Wertsteigerung ihres Standortes ein Thema ist? Immer wieder darauf angesprochen, erwidert sie meistens nur lakonisch, dass der Club bis dato noch nie seine Miete schuldig bleiben musste.
Wer keine Gelegenheit hat, nach New York zu fahren, kann seit kurzem dennoch in den Genuss der Abende im Vanguard kommen. Auf der Website der Radiostation WBGO gibt es regelmäßige live streams, die man auch als Podcast abonnieren kann.