Die Carnegie Hall des Jazz
Um Punkt 19 Uhr geht das Neon-Schild über dem roten
Baldachin am Eingang an: Villlage
Vanguard, der älteste Jazz-Club New Yorks, Zentrum des Jazz-Universums und
Mekka für Musiktouristen.
Seit 76 Jahren an der gleichen Adresse in einem
kleinen Kellerlokal im West Village untergebracht, hat der Club
Musik-Geschichte geschrieben. Mit Miles Davies, Charlie Parker, John Coltrane,
Thelonius Monk oder Charles Mingus, um nur einige der Jazz-Legenden zu nennen,
die hier regelmäßig spielten. Mit Dinah Washington oder Harry Belafonte, die
hier ihre Karrieren starteten. Mit Sonny Rollins, der 1957 die legendäre
Aufnahme "A Night at the Village Vanguard" veröffentlichte und damit
die Tradition der Live-Einspielungen, bis dato 150 an der Zahl, startete.
Ihr Spirit schwebt noch immer im Raum, und das nicht nur
wegen der unzähligen historischen Fotoaufnahmen, die die lindgrünen Wände, ein
Zeitzeugnis der 1950er Jahre, tapezieren. So wie die gesamte Einrichtung
Original-Flair verströmt, unspektakulär und unglamourös, mit den im Laufe der
Zeit notwendigen Adaptionen.
Es ist ein Montag Abend. Wie jeden Montag steht das Vanguard
Jazz Orchestra am Programm - und das seit 1966, als Thad Jones und Mel Lewis
die legendäre Big Band, die vormals Thad Jones Mel Lewis Orchestra hieß,
gründeten. Zunächst als Probenband gestartet, hatte sie durch ihre neuartigen
Arrangements rasch internationale Berühmtheit erlangt, Engagements auf der
ganzen Welt folgten. Dennoch blieb sie immer die Hausband des Clubs. Und hat
die mittlerweile von vielen internationalen Clubs übernommene Tradition der
Montag-Abend-Big Band etabliert. Nach dem Tod der beiden Gründer wurde die Band
in Vanguard Jazz Orchestra umbenannt.
Der Raum ist bis auf den letzten Sitz gesteckt voll, wer ohne vorherige Reservierung
gekommen ist, hat trotz geduldigem Anstellen an der Türe keine Chance. Lorraine Gordon, die Besitzerin des Clubs, hat bereits am
Nachmittag lästigen Anrufern, die versucht haben, noch Karten zu bekommen,
aufgehängt. Sie ist heute schlecht gelaunt, „cranky“, wie die Amerikaner sagen
würden, was auf deutsch exzentrisch, aber auch griesgrämig bedeutet. Die
uneingeschränkte Herrscherin über ihr Imperium, die selbst von Musikern wie Wynton
Marsalis widerspruchslos anerkannt wird, hat den Club nach dem Tod ihres Mannes
Max Gordon, dem Gründer des Vanguard, 1989 übernommen. Und steht noch immer,
obwohl weit über 80 Jahre alt, sechs Abende die Woche vor Ort, unterstützt von
ihrer Tochter Deborah, die sich bereits auf die Übernahme vorbereitet. Der
Charme der beiden Damen ist ein rauer, und eigentlich nicht einladend, wenn
nicht diese einmalige Mischung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine
unglaubliche Anziehung ausstrahlen würde. Hier zu spielen, ist nach wie vor die
Erfolgsbestätigung für jeden lebenden Jazz-Musiker, hierher als Gast zu kommen,
in jedem Fall ein außergewöhnliches Musikerlebnis in diesem dicht gepackten
Raum voll Atmosphäre. Eine Atmosphäre, die auch von den Musikern sehr geschätzt
und gerne mitgeschnitten wird. Und die nicht zuletzt mit der großartigen
Akustik zu tun hat, die der Raum seiner ungewöhnlichen keilförmigen Geometrie
verdankt, mit der Bühne an einer
der drei Ecken. „Live at the Vanguard“ ist mittlerweile ein sicherer
Verkaufshit unter Jazz-Labels geworden.
Dass das gesamte Gebäude eine extreme Keilform aufweist,
geht auf eine unorthodoxe Praxis in der historischen Stadtentwicklung zurück:
1914, als die U-Bahn quer durch das Greenwich Village gebaut wurde, hat man
dafür eine 9-Block große Schneise entlang der Seventh Avenue geschlagen. Manche
Häuser mussten ganz weichen, andere wurden einfach beschnitten.
Der Westteil des Greenwich Village, auch West Village
genannt, war schon zur damaligen Zeit als „Little Bohemia“ bekannt, als
günstige Wohngegend für Künstler, mit vielen kleinen Lokalen und Bars.
Letzteres ist geblieben, ersteres hat sich drastisch geändert. Heute zählt das
West Village – ebenso wie die in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden trendigen
Gegenden Chelsea und Meatpacking District – zu jenen Vierteln, die der
Gentrifizierung unterliegen: einer soziokulturellen und
immobilienwirtschaftlichen Umstrukturierung von arm auf reich.
Ob für Lorraine Gordon die Wertsteigerung ihres Standortes
ein Thema ist? Immer wieder darauf angesprochen, erwidert sie meistens nur
lakonisch, dass der Club bis dato noch nie seine Miete schuldig bleiben musste.
Wer keine Gelegenheit hat, nach New York zu fahren, kann
seit kurzem dennoch in den Genuss der Abende im Vanguard kommen. Auf der
Website der Radiostation WBGO gibt es regelmäßige live streams, die man auch
als Podcast abonnieren kann.